Süd­er­quer­weg

Kapi­tel 6

Eine Stra­ße

Ich fah­re die Stra­ße ent­lang, mit mei­nem Rad, an den klei­nen Back­stein­häu­sern vor­bei, tre­te in die Peda­le, und fah­re und fah­re und fah­re. Neben mir und um mich her­um nur die­se Häu­ser und Fel­der und der wei­te Him­mel. Ich weiß nicht mehr, ob es kalt war, ob die Son­ne schien oder ob es gereg­net hat. Da war nur die­se lan­ge, lan­ge Stra­ße und am Ende die­se klit­ze­klei­ne Apotheke.

David ist gera­de auf die Welt gekom­men, und mei­ne Auf­ga­be als für­sorg­li­cher, hin­ge­bungs­vol­ler Vater ist die Beschaf­fung ein­zel­ner Sub­stan­zen für die Gene­sung unse­rer Soh­nes. Ich weiß weder, was er hat­te, was ich kau­fen soll­te, noch war­um ich mit dem Fahr­rad, statt dem Auto, gefah­ren bin, aber ich kann mich noch leb­haft an die­se unend­lich lan­ge Stra­ße durch das ewig wei­te Land erinnern.
Ich schwe­be, zäh­le die Häu­ser, tre­te, sehe die Men­schen am Stra­ßen­rand, spü­re den Wind in mei­nen Augen und fah­re irgend­wann wie­der zurück, mit irgend­was in der Hand für mei­nen Sohn, der irgend­was hat.
„Alles gut“, beru­higt mich Tati, als ich wie­der zu Hau­se ange­kom­men bin. „David geht es gut!“
„Puh, also, … ja, also­al­so, wirk­lich – gut ist das …“, keu­che ich und ver­schwin­de in mei­nem Zim­mer. Kom­plett nass­ge­schwitzt wechs­le ich schnell mei­ne Kla­mot­ten und stür­me dann zu mei­ner Frau und David zurück. „Schatz, jetzt bin ich wie­der da, wie geht es Purzel?“
„Bär“, sagt sie für­sor­lich und guckt mich an wie jemand, der alles weiß – und das kann man auch nicht anders beschrei­ben –, wie jemand, der genau weiß, was zu tun ist, der alles rich­tig macht, der alles kann und sowie­so. Mut­ter­in­stinkt oder so heißt das (glau­be ich), und das ist auch gut so.
„Er schläft. Siehst du?“, flüs­tert sie und strahlt bis über bei­de Ohren.
Ich strah­le auch.
Nach eini­ger Zeit hat sich alles etwas nor­ma­li­siert, und ich beschlie­ße in ein paar ruhi­gen Momen­ten den Süd­er­quer­weg – denn das war die Stra­ße zur Apo­the­ke, aber das wuss­te ich damals noch nicht –, erneut mit dem Fahr­rad ent­lang­zu­fah­ren. Und dies­mal wer­de ich mei­ne Kame­ra mit­neh­men und fotografieren.
Häuser.

Wenn ich mir heu­te die Bil­der angu­cke, fra­ge ich mich — ich fra­ge lie­ber nicht mehr. Ich habe ein­fach jedes Haus foto­gra­fiert, dass auch nur annä­hernd nach etwas (irgend­et­was) aus­sah (für mich zumin­dest). Ein alter Birn­baum vor dem Haus? Foto. Ein biss­chen Krem­pel im Vor­gar­ten? Foto. Ein biss­chen Fach­werk, ein biss­chen Klin­ker, ein biss­chen Reet oder eine klei­ne Scheu­ne? Foto. Far­ben, Stei­ne, Holz, Mate­ria­li­en – alles ganz toll. Natür­lich steht da nicht an jeder Stra­ßen­ecke (Moment, Stra­ßen­ecken gibt es da gar nicht so vie­le, die Stra­ße ist ein­fach nur lang) ein wah­res Schmuck­stück, aber trotz­dem hab ich in vie­lem etwas gese­hen, dass ich mir bis heu­te nicht ganz erklä­ren kann. Es ist, als ob die Häu­ser ihr eige­nes klei­nes Leben führ­ten. Es ist, als hät­ten sie (einen) Cha­rak­ter, als ob sie mit­ein­an­der spre­chen, als ob sie mir etwas sagen wür­den (Halt­stopp!, das hört sich jetzt aber ein biss­chen komisch an, na ja). Außer­dem sagen sie nicht nur mir etwas, sie sagen jedem etwas, der hier mit offe­nen Augen durch das Land streift.
Und so kommt es auch, dass wir irgend­wann mit Ernst Korth, den wir spä­ter durch den Freun­des­kreis Rieck Haus ken­nen­ge­lernt haben, durch die Vier­lan­den fah­ren, um mehr über „die Häu­ser“ zu erfahren.
Der Mann ist ein wan­deln­des Lexi­con, ein Archiv, ein Geschichts­kon­tor oder so. Zu jedem Haus, das uns über die Jah­re auf­ge­fal­len ist, hat er eine Geschich­te zu erzäh­len. Wir lau­schen nur.
„Halt, halt, halt! Hier, fahr noch mal zurück!“, ruft Ernst. „Da müs­sen wir noch mal ran!“
Er erzählt von Men­schen über die Jahr­hun­der­te, von Arbei­tern und alten Her­ren – er kennt jeden mit Namen –, von Brän­den, Flu­ten und ande­ren Kata­stro­phen, von alten Bräu­chen, altem Hand­werk und alten Freun­den. Schön ist das, und dabei wirkt er immer etwas in sich gekehrt, nach­denk­lich, er sieht die Bil­der vor sei­nen Augen, und fragt sich, wie es heu­te ist. Ich sehe auch die Bil­der, aber ich ken­ne sie nicht. Ich habe es nicht erlebt, wie es frü­her mal war.
Heu­te ist es nicht schlech­ter. Nur anders.

Wenn ihr irgend­wel­che Tipps für uns habt, wür­den wir uns wirk­lich sehr freu­en, wenn ihr uns anmai­len wür­det (über eine tol­le “Beloh­nung” kön­nen wir dann auch reden ;) info@4lande.de

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